Geringe Anforderungen an Patientenvortrag bei hypothetischer Einwilligung

Beruft sich der behandelnde Arzt bzw. die behandelnde Ärztin im Falle einer fehlerhaften Eingriffsaufklärung darauf, dass der Patient bzw. die Patientin auch im Falle einer zutreffenden Aufklärung in die betreffende Maßnahme eingewilligt hätte („hypothetische Einwilligung“), so trifft ihn/sie die Beweislast für diese Behauptung, wenn der Patient bzw. die Patientin zur Überzeugung des Tatrichters/der Tatrichterin plausibel macht, dass er bzw. sie – bei ordnungsgemäßer Aufklärung – vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte. Dabei dürfen an die Substantiierung des Patient(inn)envortrags allerdings keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Darüber hinausgehend muss der Patient bzw. die Patientin jedenfalls nicht plausibel machen, dass er bzw. sie sich im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung auch tatsächlich gegen die durchgeführte Maßnahme entschieden hätte.
Im entschiedenen Fall sah der BGH bei einer Abwägung des geringeren Risikos für Nervenschäden gegenüber dem Nachteil stärkerer Schmerzen und stärker eingeschränkter Mobilität einen echten Entscheidungskonflikt gegeben.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 07.12.2021 – VI ZR 277/19

1.000.000 € Schmerzensgeld

Kind Antibiotikum zu früh verabreicht: hohes Schmerzensgeld bei lebenslangen Dauerschäden

Das LG Limburg hat ein Krankenhaus, eine Krankenschwester und eine Belegärztin zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von insgesamt 1 Mio. € nebst Zinsen und Schadenersatz verurteilt.

Ein damals einjähriger, wegen eines Infekts stationär eingewiesener Patient sollte über einen Portzugang ein Antibiotikum erhalten. Vor Aufregung verschluckte er sich an einem zuvor gegessen Stück Apfel und erlitt dadurch schwerste Hirnschäden. 

Die Kammer war davon überzeugt, dass die Krankenschwester bei der Gabe der Antibiose wusste, dass der Patient kurz zuvor gegessen hatte. Auch hätte sie damit rechnen müssen, dass er sich über die Gabe des Medikaments aufregen würde. Sie hätte daher länger mit der Verabreichung warten müssen, um ein mögliches Verschlucken im Mund verbliebener Speisereste zu verhindern. Die nach dem Verschlucken eingeleiteten Rettungsmaßnahmen seien überdies fehlerhaft und in der durchgeführten Form sogar schädlich gewesen. 

Für die Höhe des Schmerzensgeldes hat die Kammer maßgeblich auf die Folgen für den Patienten abgestellt. Ein auch nur näherungsweise normales Leben werde dieser nie führen. Er könne sich kaum bewegen, nicht laufen, nicht sprechen, nicht selbst essen oder sich waschen und pflegen. Rund um die Uhr sei er auf fremde Hilfe angewiesen. Selbst Essen und Schlafen seien für ihn infolge von Schluckbeschwerden und Epilepsie mit Angstzuständen verbunden. Landgericht Limburg, Urteil vom 28.06.2021 – 1 O 45/15

BGH: Aufklärung bei sog. „Neulandmethode“ und zur Substantiierung begründenden Vortrags

erhöhte Anforderungen an dessen Aufklärung

Bei der Anwendung einer (noch) nicht allgemein anerkannten medizinischen Behandlungsmethode sind zur Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten erhöhte Anforderungen an dessen Aufklärung zu stellen. Dem Patienten müssen nicht nur das Für und Wider dieser Methode erläutert werden, sondern er ist auch darüber aufzuklären, dass der geplante Eingriff nicht oder noch nicht medizinischer Standard ist. Eine Neulandmethode darf nur dann am Patienten angewandt werden, wenn diesem zuvor unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die neue Methode die Möglichkeit unbekannter Risiken birgt.

Gedankliche Voraussetzung der hypothetischen Einwilligung ist die Hypothese einer ordnungsgemäßen, insbesondere auch vollständigen Aufklärung. Diese Hypothese ist auch der Beurteilung der Frage zugrunde zu legen, ob der Patient einen Entscheidungskonflikt plausibel gemacht hat. Der Tatrichter hat dem Patienten vor seiner (zur Feststellung der Frage, ob dieser in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, grundsätzlich erforderlichen) Anhörung mitzuteilen, welche Aufklärung ihm vor dem maßgeblichen Eingriff richtigerweise hätte zuteilwerden müssen.

Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Diese Grundsätze gelten insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den ihrer Behauptung zugrundeliegenden Vorgängen hat.

Eine Partei darf auch von ihr nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einführen, wenn sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde keine sichere Kenntnis von entscheidungserheblichen Einzeltatsachen hat. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Behauptung innere Tatsachen einer anderen Person betrifft. Unbeachtlich ist der auf Vermutungen gestützte Sachvortrag einer Partei erst dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen. Bundesgerichtshof, Urteil vom 18.05.2021 – VI ZR 401/19